Ein Blick auf BLOCK NATO und die Proteste in Strasbourg
Von den Protesten gegen den NATO-Gipfel werden wohl vor allem die Bilder brennender Gebäude und die Rauchsäulen über Strasbourg in Erinnerung bleiben. Dass Protest zielgerichtet verhindert wurde, davon ist ebenso wenig nach Strasbourg die Rede, wie von den erfolgreichen Blockadeaktionen in der Innenstadt. Eine erste Einschätzung aus den Reihen der Interventionistischen Linken (IL) zu den Fallstricken, Unzulänglichkeiten, Erfolgen und Begleitumständen der Proteste am 4. April. Dieser Artikel wird in der nächsten Ausgabe von ak 538 erscheinen.
Strasbourg, 4. April 2009, 6 Uhr: Etwa 400 AktivistInnen von BLOCK NATO versammeln sich auf dem Place de l’Université unweit der beiden nur mit Sonderausweis zugänglichen „orangenen Zonen“. Die meisten von ihnen haben die Nacht im Zentrum von Strasbourg verbracht, andere kommen aus zwei Reisebussen dazu, die wie durch ein Wunder bis hierhin durchgekommen sind. Nach einer Megaphonansage setzt sich die Menge in Richtung des Kongresszentrums in Bewegung, in dem der NATO-Gipfel in wenigen Stunden tagen soll.
Sekunden später fliegen die ersten CS-Gasgranaten durch die Luft. Die AktivistInnen weichen zurück, bleiben jedoch zusammen und finden einen anderen Weg, der sie um die Polizei herum näher an ihr Ziel führt. Viele haben tränende Augen oder atmen schwer. Mindestens ein Aktivist muss in ärztliche Behandlung gebracht werden. Andere kommen besser mit dem Reizgas zurecht oder sind besser ausgestattet – etwa mit Schutzbrillen und Atemmasken.
Als die Gruppe nur noch etwa 300 Meter von der Sperrzone entfernt ist, werden die Einheiten der französischen Bereitschaftspolizei CRS sichtlich nervös. Immer mehr PolizistInnen werden herangeführt und die Gruppe erneut massiv mit CS-Gas beschossen. Kurzzeitig ist sie festgesetzt, doch dann ist auch die Polizei froh, dass sich die AktivistInnen wieder vom Kongresszentrum entfernen. Dafür gibt sie die Avenue de la Paix – welch ein symbolischer Name – frei. An einer Kreuzung stoppt die Gruppe von BLOCK NATO – einige setzten sich, andere bilden Ketten.
Während der Blockadepunkt an der Avenue de la Paix hauptsächlich von der IL und solid getragen wird, gelangt die Aktionsgruppe von NATO-ZU (dem explizit gewaltfreien Teil von BLOCK NATO) auf der gegenüberliegenden Seite des Kongresszentrums auf eine Zufahrtsstraße und setzt sich dort mit ca. 150 Leuten fest. Nach anfänglichen Drohungen durch die Polizei kann auch diese Gruppe ihre Blockade mehrere Stunden aufrechterhalten.
Entscheidenden Anteil an BLOCK NATO und dem Gelingen der Aktionen haben aber auch jene ca. 2.000 AktivistInnen, die sich in Kleingruppen vom Camp aus auf den Weg in die ca. sieben Kilometer entfernte Innenstadt machen. An der Organisation und Koordination sind auch IL-AktivistInnen beteiligt. Während einige der sehr früh aufgebrochenen Kleingruppen relativ leicht zu den Blockaden durchkommen, werden die größeren Gruppen sofort von der Polizei mit CS-Gas, Gummigeschossen und Blendschockgranaten attackiert.
Dennoch hielten sich die AktivistInnen an das beschlossene Aktionskonzept: Sich nicht auf Auseinandersetzungen mit der Polizei einlassen, sie nicht angreifen und immer wieder Wege um sie herum suchen. Die erste größere Barriere ist eine Bahnlinie, die von der Polizei mit starken Kräften und den unvermeidlichen Gas- und Schockgranaten verteidigt wird. Nach zahlreichen Versuchen gelingt 200 Leuten gegen 7 Uhr der Durchbruch. Später wird die Polizeiabsperrung immer löcheriger. Auf ihrem langen Weg müssen die AktivistInnen mehrfach angreifender Polizei ausweichen. Zum entscheidenden Hindernis für die meisten werden die Kanalbrücken, die den direkten Weg zu den Blockadepunkten eröffnet hätten. Einigen gelingt es in kleinen Gruppen und auf Schleichwegen noch bis zur Blockade auf der Avenue de la Paix zu kommen – die meisten bleiben aber zunächst dort.
Das macht durchaus Sinn. Die Straße vor den Brücken ist der Weg, den die internationale Großdemonstration für ihren Weg ins Stadtzentrum hätte einschlagen müssen. Denn schon längst ging es bei der Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel nicht mehr „nur“ um das aggressive Militärbündnis und seine Rolle im globalen Kriegs- und Ausnahmezustand, sondern um das Recht auf Protest selbst. Nach dem Willen der zuständigen Präfektur – hinter der mit Sicherheit Staatspräsident Nicloas Sarkozy und der Elysée-Palast standen – sollte die Demonstration durch menschenleere Industriebrachen am Rand von Strasbourg laufen. Sarkozy wurde vor dem Gipfel mit den Worten zitiert, er wolle in der Innenstadt von Strasbourg „keinen Demonstranten“ sehen. Und der Einsatzleiter der französischen Polizei sagte an BLOCK NATO gerichtet: „Wenn Sie um 7 Uhr in Strasbourg City auf der Straße sind, werden sie das um zehn nach sieben nicht mehr sein. Es wird keine Verhandlungen, sondern kurze und konsequente Handlungen der Polizei geben.“
Daran gemessen waren die Aktionen von BLOCK NATO ein Erfolg. Das Demonstrationsverbot in der Stadt wurde unterlaufen, Hunderte von AktivistInnen haben sich durch den CS-Gasnebel hindurch ihr Recht auf Protest erstritten. Eine Totalblockade des Gipfels wie in Heiligendamm gehörte schon im Vorfeld realistischerweise nicht zu den Zielsetzungen. Zu schwierig war das Gelände und zu schwach insgesamt die Mobilisierung. Insofern war man zufrieden, auf die Zufahrtsstraßen gekommen zu sein und den Gipfelablauf beeinflusst zu haben. Ob die Verzögerung im NATO-Zeitplan von einer knappen Stunde nun eher auf die Sicherheitslage oder mehr auf den dauertelefonierenden Silvio Berlusconi zurückgeht, wird so leicht nicht zu klären sein.
Gegen 13 Uhr entschieden die beiden BLOCK-NATO-Blockaden, geschlossen in Richtung der Großdemonstration zu gehen. In einem bunten, lauten und entschlossenen Demonstrationszug von rund 800 Leuten ging es durch die Straßen von Strasbourg, in denen immer wieder Menschen von den Balkonen freundlich winkten oder klatschten. Überhaupt gab es viele positive Erfahrungen mit den StrasbourgerInnen – schon beim kilometerlangen Weg vom Camp um die Polizeiabsperrungen herum leisteten viele Unterstützung: Sie zeigten Wege, gaben Wasser, Nahrung oder Medikamente.
Je näher die Demonstration dem Ort der geplanten Auftaktkundgebung kam, desto deutlicher wurde das ganze Ausmaß des Polizeistaatsmanövers, das in Strasbourg stattfand. Der Zugang zur Kundgebung war durch massive Kräfte versperrt. Mehrfach fuhren Polizeifahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit durch die Menschenmenge und verletzten DemonstrantInnen. In einiger Entfernung war die Rauchsäule über der brennenden Zollstation zu sehen. Über den Kundgebungsplatz wehten dichte Wolken von CS-Gas.
Die Aktion von BLOCK NATO wurde an dieser Stelle beendet. Einige versuchten noch weiter vergeblich zur Großdemonstration zu gelangen, während für andere der Tag hier zu Ende war.
Die Befürchtung, die Blockaden und Aktionen des Zivilen Ungehorsams würden die Demonstration gefährden, die insbesondere Vertreterinnen der französischen Friedensbewegung und der drei Linksparteien KPF, La Gauche und NPA vorbrachten, haben sich in ihr Gegenteil verkehrt: Es waren die Blockadeaktionen, die für die Präsenz des Protestes in Strasbourg gesorgt haben, während die Demonstration zum Spielball der Polizeitaktik wurde. Nicht nur, dass der Zugang der Demonstration von Strasbourg aus behindert und die Kundgebung immer wieder direkt angegriffen wurde, auch die deutsche Polizei tat ihren Teil dazu, eine völlig legale Demonstration schlicht zu unterbinden, indem sie tausende TeilnehmerInnen – teils in Kehl, teils schon weit im Vorfeld – gar nicht erst nach Frankreich ausreisen ließ.
Die Auseinandersetzungen begannen, als Leute die Polizeiprovokationen leid waren und sich den Zugang (!) zur angemeldeten Kundgebung erzwingen wollten. Damit nahm eine Dynamik ihren Anfang, die allein die Folge des Verhaltens der Polizei war. Wenn Reiner Braun für das International Coordinating Committee, das Gesamt-Vorbereitungsbündnis der Anti-NATO-Proteste, hinterher erklärte, es gebe kein Recht auf dieses Polizeiverhalten mit Gewalt zu reagieren, dann ist das keineswegs der Konsens im ICC. Es ist doch vielmehr umgekehrt: Wenn Leute über Stunden ständigen Angriffen der Polizei ausgesetzt sind, die offensichtlich darauf zielen, Proteste gegen den NATO-Gipfel insgesamt zu unterbinden, dann kann ihnen niemand das Recht auf Widerstand und Gegenwehr absprechen. Das heißt nicht, dass nicht einzelne Aktionen wie z.B. das brennende Hotel, bei dem unbeteiligte Menschen gefährdet worden sind, kritisch hinterfragt werden müssen. Aber die Basis solcher Kritik muss zunächst die Solidarität mit allen NATO-GegnerInnen sein, die am 4. April auf der Straße waren.
Für eine Spaltung in gute, friedliche und böse, gewalttätige DemonstrantInnen lässt sich die Kampagne BLOCK NATO nicht funktionalisieren. Die Aktionsvereinbarung von BLOCK NATO galt nur für die Aktionen von BLOCK NATO und wurde von allen AktivistInnen aus den unterschiedlichen Spektren und Ländern eingehalten. Diese Vereinbarung stellt das solidarische Verhältnis zu anderen Aktionsformen nicht infrage, wie bereits auf den Vorbereitungstreffen auf den Camps mehrfach betont wurde.
Für die IL hat sich die Beteiligung an BLOCK NATO, dem nach Heiligendamm und Köln dritten Versuch, ein Konzept des radikalisierten Zivilen Ungehorsams zu organisieren, insgesamt gelohnt. Es ging – wie schon in Heiligendamm – darum, in einer Situation der Verunsicherung durch massive Polizeipräsenz und Repression kollektive Handlungsfähigkeit herzustellen. Das ist, wenn auch in kleinerem Rahmen, gelungen. Das Bündnis mit gewaltfreien Gruppen und mit dem relativ neuen französischen Netzwerk Désobéissant Civiles („Zivilen Ungehorsamen“) hat sich bewährt, das gegenseitige Vertrauen ist gewachsen.
Konsequenterweise war aber auch dieses Mal der Aufruf zu einem antikapitalistischen Block auf der Demonstration ein Teil der IL-Mobilisierung – auch wenn sich dieser Block in der Situation, dass eine eigentliche Demonstration gar nicht zustande gekommen ist, nur teilweise sammeln konnte.
Diese grundsätzlich positive Einschätzung der IL-Aktivitäten kann aber nicht überdecken, dass die Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel insgesamt schwach war. Zwischen Teilen der radikalen Linken auf der einen Seite und der traditionellen Friedensbewegung auf der anderen Seite war das Spektrum in der Mitte ziemlich dünn besetzt. In Deutschland hat hier sicherlich die bundesweite Mobilisierung zu den „Wir zahlen nicht für Eure Krise“-Demos in Berlin und Frankfurt nur ein Wochenende zuvor eine Rolle gespielt. Zwei große Mobilisierung so dicht hintereinander funktionieren einfach nicht.
Dass es mit vielleicht 30.000 DemonstrantInnen insgesamt, von denen nicht einmal die Hälfte die Demonstration erreicht, nicht gelingt, eine adäquate Antwort auf die konsequent repressive Polizeistrategie zu finden, kann nicht überraschen. Dazu beigetragen hat aber auch eine unzureichende Vorbereitung der Demonstration, die sich nicht auf dem Niveau der Konfrontation bewegt hat, wie es von der Kampfansage der Präfektur gegen jede akzeptable Demoroute vorgegeben war. Stattdessen wurde so getan, als ob es um eine ganz normale Demonstration ginge, bei der die Fragen von RednerInnen, Blockanordnung, Leittransparent usw. im Vordergrund stünde.
Hervorzuheben hier – wie schon beim G8 in Rostock – die Rolle migrantischer GenossInnen, die zeigten, was zielgerichtete, kollektive Militanz sein kann. In diesem Zusammenhang muss die Frage muss erlaubt sein, warum die 7.000 NATO-GegnerInnen in Kehl stundenlang keine Anstalten machten, die Brücke nach Strasbourg zu überqueren, sondern sich (vergeblich) auf Verhandlungen mit der Polizei verlassen haben. Die Erwartung, die eigene Friedfertigkeit würde vom Staat anerkannt, hat sich in Strasbourg und Kehl einmal mehr als Illusion herausgestellt. Bleibt zu hoffen, dass alle Beteiligten aus Strasbourg lernen, sich nicht von anderen zu distanzieren, die angeblich die eigenen Aktionen kaputtmachen, sondern frühzeitig und gemeinsam eine Strategie gegen das zunehmend repressive Vorgehen gegen Gipfel- und andere Proteste zu entwickeln.
Erschwerend kam zu dieser organisatorischen noch eine inhaltliche Schwäche hinzu. Anders als z.B. beim G8 in Heiligendamm ist es den GipfelgegnerInnen kaum gelungen, ihre Kritik und ihre Visionen einer besseren Welt in die Öffentlichkeit zu tragen. Das war nicht die Folge des Demonstrationsgeschehens am 4. April, sondern schon im Vorfeld zu beobachten. Um dem zu begegnen, wäre eine stärkere Verknüpfung der Themen Krieg, Innerer Sicherheit, ökonomischer und ökologischer Krise notwendig gewesen – mit anderen Worten: eine deutlichere antikapitalistische Ausrichtung der Mobilisierung.
Christoph Kleine, aktiv bei Avanti – Projekt undogmatische Linke und in der IL